Gespräch mit dem Ärztlichen Leiter Dr. André Gnirke

Algorithmen sind für Krankheitsbilder gemacht, nicht für Berufsbilder

Erst mit der letzten Landesverordnung zur Durchführung des Rettungsdienstgesetzes in Schleswig-Holstein, seit dem 1. Januar 2014 gültig, ist eine Ärztliche Leitung Rettungsdienst auch offiziell vorgeschrieben. Dr. med. André Gnirke hat als Arzt in Kliniken und Rettungsdiensten gearbeitet und ist seit Oktober 2014 Ärztlicher Leiter der RKiSH.

Dr. med. André Gnirke
Gespräch mit …

Ärztlicher Leiter Rettungsdienst

Im Rettungsdienst ist die Position des Ärztlichen Leiters noch relativ neu. Was sind Ihre Aufgaben?

Meine Aufgabe sind vor allem die Organisation und die Einbringung von fachlich-medizinischem Input in den Rettungsdienst. Dazu zählt natürlich auch die Überwachung der medizinischen Maßnahmen oder der Medikamentenanwendung durch Rettungsassistenten und Notfallsanitäter.

Welche Themen stehen für Sie dabei im Fokus?

Ganz oben steht weiterhin die Einführung des Notfallsanitäters als neues Berufsbild mit erweitertem Versorgungsspektrum und Versorgungsmöglichkeiten. Sämtliche invasiven Maßnahmen, die jetzt durch den Notfallsanitäter durchgeführt werden sollen, werden in der Ausbildung erlernt und vom zuständigen Ärztlichen Leiter kontrolliert. Und dann ist da natürlich die Erstellung von Versorgungsalgorithmen und Standards (SOP) für den Rettungsdienst.

Gibt es dazu auch einen fachlichen Austausch untereinander im Rettungsdienst?

Ja, natürlich. Es wird derzeit daran gearbeitet, die Ausbildungsinhalte und Standards für die Versorgung der Patienten auf Landes- und Bundesebene zu vereinheitlichen. Und auch die Algorithmen sind so weit abzustimmen, dass hier in Schleswig-Holstein die Kreisgrenzen nicht eine Versorgungsgrenze darstellen.

Es gibt also auch einen bundesweiten Austausch?

Ja. Aber natürlich ist vieles durchaus von unterschiedlichen Meinungen geprägt. Denn wir müssen heute planen, wie unser Rettungsdienst in zehn, 20 oder 30 Jahren noch funktionsfähig sein kann. Da muss man auch bereit sein, neue Wege zu gehen und Dinge anzupassen, die vielleicht schon hätten angepasst werden können. Es geht darum, die Berufsbilder im Rettungsdienst immer weiterzuentwickeln und weiterhin zu professionalisieren. Das gilt für den nichtärztlichen wie auch für den ärztlichen Bereich. Jetzt ist die Chance da, die Strukturen anzupassen und die Versorgung für alle Patienten noch besser werden zu lassen, indem man das Personal besser qualifiziert.

Sie sprachen Algorithmen als ein Fokusthema an. Sind diese Handlungsanweisungen nun die Basis für mehr Patientensicherheit?

Sie sind auf jeden Fall sehr wichtig. Früher ging sehr, sehr viel über Erfahrung und über Versorgungsstrukturen. Ich glaube aber, wir haben mit dem Flussdiagramm und dem Ablaufdiagramm einfachere Wege gefunden. Was aktuell in den von den Fachgesellschaften vorgegebenen Leitlinien steht, wird in diesen Algorithmen widergespiegelt. Daher ist das derzeit die beste und sicherste Versorgung, die man machen kann. Und schließlich sind Algorithmen für Krankheitsbilder, nicht für Berufsbilder gemacht. In der klinischen Arbeit in Arztpraxen und Krankenhäusern hat die leitliniengerechte und algorithmenbasierte Versorgung in den letzten Jahren ja auch einen immer höheren Stellenwert zur Erhöhung der Patientensicherheit erlangt und wird zunehmend weiter ausgebaut.

Sind die Algorithmen dauerhaft für alle festgeschrieben?

Nein. Gerade in der medizinischen Versorgung sind die Dinge sehr, sehr im Fluss und hängen auch immer wieder sehr von verschiedensten wissenschaftlichen Arbeiten ab. Und es werden Algorithmen dazukommen. Wir werden natürlich versuchen, so viele Notfallszenarien wie möglich in diese Struktur zu packen. Für die Handlungssicherheit der Mitarbeiter, für die Anwendungssicherheit und damit für die Patientensicherheit. Das ist ja das hohe Gut, was uns allen vorschwebt.

Sie haben dreieinhalb Jahre in der Schweiz gearbeitet. Wird dort auch nach Algorithmen gearbeitet?

Das Schweizer Rettungsdienstsystem arbeitet so ähnlich, wie man sich das von dem Notfallsanitäter in Zukunft vorstellen könnte. Rettungssanitäter, wie sie in der Schweiz heißen, arbeiten extrem streng und sehr eng ausschließlich mit Algorithmen. Delegierte ärztliche Maßnahmen, Medikamentengaben und invasive Maßnahmen werden jährlich durch einen Ärztlichen Leiter überprüft. Sie werden von Beginn der Ausbildung an trainiert.

Wie sind denn Ihre persönlichen Erfahrungen mit Algorithmen im Einsatzdienst?

Ich musste mich da natürlich wie jeder andere auch daran gewöhnen. Jetzt finde ich das ein sehr, sehr angenehmes Arbeiten und angenehmes Tool. Und ich finde es auch legitim, selbst im Einsatzgeschehen noch mal auf das Algorithmen-Heft zu schauen, wenn man zum Beispiel etwas lange nicht gemacht hat. Das strukturierte Arbeiten hat die Arbeit einfacher gemacht. Und Dinge, die man selten macht, sollten einfach sein oder einfach aufgeschrieben sein.

Sie haben in Kliniken und Rettungsdiensten gearbeitet, kennen also beide Seiten. Was ist das Entscheidende bei der Übergabe eines Patienten in die Notaufnahme?

Gute Kommunikation. Und ich glaube, wir haben es auch in den letzten Jahren gelernt, dass wir alle die gleiche Sprache sprechen. Das wir also draußen in der präklinischen Notfallversorgung das Gleiche meinen wie das Versorgungsteam im Schockraum. Da haben wir früher viele Jahre andere Worte für das Gleiche gehabt.

Gibt es Dinge, die in der Zusammenarbeit besser gemacht werden können?

Ich glaube, wir müssen das Bild des Rettungsdienstes und das Bild der Notaufnahme mehr zueinander bringen. Es muss jedem begreiflich sein, was wer wo macht. Also wir Retter müssen uns angucken, was eigentlich hinter der Krankenhaustür passiert. Und genauso wäre es auch wünschenswert, wenn die Krankenhaus-Mitarbeiter schauen, was draußen passiert. Gerade wenn wir verstärkt eine Versorgung mit invasiven Tätigkeiten oder mit Medikamentengaben durch Notfallsanitäter und Rettungsassistenten haben.

Wie könnte der Rettungsdienst in zehn oder 15 Jahren aussehen?

Wir werden vermutlich durch die veränderten Versorgungsmöglichkeiten weniger häufig einen Notarzt zu Notfalleinsätzen aufbieten können als heute. Umso wichtiger ist es, den Notarzt dahin zu bekommen, wo er wirklich gebraucht wird. Und dann muss der Notarzt oder die Notärztin wissen, wie der Rettungsdienst funktioniert. Ihre Einsätze müssen eine Erweiterung des Spektrums der Versorgung darstellen und die erforderlichen Skills und Techniken müssen sehr gut trainiert sein und beherrscht werden. Deshalb wird es notwendig sein, dass wir unser Personal weiterhin qualifizieren. Und ich denke, wir werden zusehends mehr neue Medien einsetzen in der Notfallversorgung – Stichwort Telemetrie oder Tele-Medizin. Wir werden eine Vernetzung von unseren verschiedensten Gerätschaften und Datensysteme wie Patientendokumentationssysteme haben.

Werden dabei andere Fähigkeiten notwendig?

Ja. Aber der Rettungsdienst schwebt nicht isoliert im Raum, unabhängig von anderen Systemen. Es hängt auch davon ab, wie sich die hausärztliche Versorgung, die Krankenhauslandschaft und die notärztliche, flächendeckende Versorgung entwickeln. Und dann ist die Frage, ob wir uns vielleicht auch um mehr Krankheitsbilder kümmern müssen.

Das heißt, wir Bürger rufen zukünftig nicht nur im Notfall die 112 an, sondern auch zum Beispiel bei einer Grippe?

Das mag sein, dass die Notrufnummer deutlich häufiger gewählt werden muss. Und derjenige, der den Telefonanruf annimmt, wird dann vielleicht diese Patientenströme lenken müssen.

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